"Man vergisst, dass Investieren eher Kunst als Wissenschaft ist"

Rachel Whittaker1

Rachel Whittaker
Leiterin Sustainable Investing Research, Mitglied Executive Committee Robeco Switzerland Ltd., Zürich

Rachel Whittaker ist Leiterin des Research-Teams für Sustainable Investing (SI) und wurde kürzlich zum Mitglied des Executive Committee bei Robeco Robeco Switzerland Ltd. ernannt. Sie arbeitete von 2015 bis 2017 als Senior SI-Analystin bei Robeco, kehrte 2021 zurück und übernahm die Leitung des Teams. Zuvor hatte sie SI-Positionen bei UBS Wealth Management, Vontobel Asset Management und Mercer's Investment Consulting inne. Rachel Whittaker begann ihre Karriere im Jahr 2000 als Sell-Side Equity Research Analystin und erwarb ihren Bachelor-Abschluss an der University of Cambridge, UK. Ausserdem hat sie einen MSc in Corporate Environmental Management von der University of Surrey, UK, und ist CFA Charterholder.

 

Frau Whittaker, beschreiben Sie uns ihren Weg vom Aktienresearch in London zum Head of Sustainable Investing Research bei Robeco in Zürich.

Ich begann meine Karriere auf einem traditionellen Weg in der Investmentbranche mit einem Graduiertenprogramm bei Merrill Lynch. Mir gefiel die Dynamik des Aktienresearchs und das Verständnis dafür, wie Unternehmen in verschiedenen Märkten agieren. Aber ich hatte das Gefühl, dass bei den traditionellen Bewertungsmodellen das menschliche Element fehlte und dass das infinite Streben nach Wachstum in einer ressourcenbeschränkten Welt keinen Sinn machte. Der Wechsel in den Bereich des nachhaltigen Investierens und ein Aufbaustudium im Bereich Umweltmanagement füllten diese Lücke. Es schien mir logisch, dass zukunftsorientierte Investitionsentscheidungen alle möglichen zukünftigen Auswirkungen sowohl auf Investitionen als auch auf die Gesellschaft und den Planeten berücksichtigen sollten. 2010 zog ich in die Schweiz, wo es bereits ein grosses Cluster für Sustainable Investing (SI) gab, der sich anschickte, eines der führenden Zentren für nachhaltige Finanzen zu werden. Es war ein Privileg, mit meinem kleinen Beitrag Teil dieser Entwicklung zu sein.

Sie sind seit über 15 Jahren auf nachhaltiges Investieren spezialisiert. Der ESG-Markt hat sich bemerkenswert entwickelt. Dennoch hat nachhaltiges Investieren immer noch seine Schwachstellen, wie das Fehlen von Standards, zuverlässigen Daten usw. Wie lassen sich diese Schwächen überwinden?


Man setzt für das nachhaltige Anlegen oft viel höhere Massstäbe als für das traditionelle Anlegen und vergisst dabei, dass Investieren eher Kunst als Wissenschaft ist. Finanzanalysten wissen, dass standardisierte, geprüfte Jahresabschlüsse und -zahlen nicht automatisch zu perfekten Anlageentscheidungen führen, warum sollte dies also bei Nachhaltigkeitsdaten der Fall sein? Nachhaltiges Investieren hat in den letzten 20 Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Wir verfügen über mehrere Rahmenwerke für unterschiedliche Zwecke und haben Zugang zu immer grösseren nicht-finanziellen Datenmengen. Natürlich gibt es noch viel Raum für Verbesserungen, aber die Kompetenz der Investierenden zeigt sich in der Interpretation und Nutzung der verschiedenen, uns zur Verfügung stehenden Daten, seien es nun Finanz- oder ESG-Daten. Und bezüglich der Wirkungsmessung von Investments sollte das Fehlen perfekter Daten für die Berichterstattung oder Messung keine Entschuldigung für Untätigkeit sein.

Aus Ihrer Sicht: Geht es bei nachhaltigen Investitionen darum, Risiken wie den Klimawandel zu vermeiden, oder geht es darum, eine Wirkung wie die Reduzierung von CO2 zu erzielen?


Beides, und noch mehr! Es gibt viele Gründe, warum Anlegerinnen und Anleger zunehmend nachhaltiges Investieren bevorzugen; beispielsweise weil solche Anlagen mit ihren Werten übereinstimmen, weil sie glauben, dass sie zu besser informierten Anlageentscheidungen führen, oder weil sie versuchen, einen Beitrag zur Erreichung der Sustainable Development Goals der UNO zu leisten. Eine breites Produktangebot ermöglicht es heute eine Wahl zu treffen, welche den gewünschten Präferenzen und Zielen entspricht. Die Herausforderung besteht darin, über das Marketingmaterial hinauszuschauen und herauszufinden, welche Produkte diese Ziele tatsächlich erreichen.

Die Bekämpfung des Klimawandels steht beim nachhaltigen Investieren im Vordergrund. Robeco befasst sich auch seit geraumer Zeit mit der Biodiversität. Eine der grössten Herausforderungen dabei ist die Integration von Aspekten der Biodiversität in ein Portfolio. Wie gehen Sie damit um?


Der Klimawandel ist neben der Abholzung sowie der Übernutzung von Tierarten eine der Hauptursachen für den Verlust der Biodiversität, so dass wir diese Themen nicht isoliert betrachten können. Bei Robeco beschäftigen wir uns seit einiger Zeit mit den Auswirkungen von Unternehmen auf den Verlust der biologischen Vielfalt, wobei wir uns auf die Sektoren konzentrieren, in denen diese Probleme am bedeutendsten sind. Wir haben darum auch biodiversitätsbezogene Themen in unsere Programme für den aktiven Dialog mit Firmen (Engagement) aufgenommen und Ausschlusskriterien definiert, beispielsweise in unserer «Palm Oil»-Policy. Anfang dieses Jahres haben wir ausserdem unsere Biodiversitäts-Roadmap zur Entwicklung eines «naturfreundlichen» Asset Managements publiziert. Unser Ziel ist es, die Auswirkungen und Abhängigkeiten der einzelnen Unternehmen in Bezug auf die biologische Vielfalt besser zu verstehen und in allen unseren nachhaltigen Fonds zwischen Vorreitern und Nachzüglern in Sachen Biodiversität zu unterscheiden. Unsere kürzlich eingeführte Biodiversitätsanalagestrategie investiert in Unternehmen, die die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen und Ökosystemleistungen unterstützen, sowie in Technologien, Produkte und Dienstleistungen, die dazu beitragen, Bedrohungen der Biodiversität zu verringern oder natürliche Lebensräume wiederherzustellen.

Wie sind die Organisationsstrukturen und Anlageprozesse von Robeco aufeinander abgestimmt, um die bestmöglichen Ergebnisse bei Ihren nachhaltigen Anlageprodukten zu erzielen?


Wir haben ein internes «Centre of Expertise» mit 50 SI-Spezialisten, die sich auf Forschung, Daten, Aktionärsabstimmungen, Engagement, Kundenschulung und die Auseinandersetzung mit den aktuellen SI-Themen konzentrieren, wie z. B. die Auswirkungen des Klimas auf Portfolios oder die sich entwickelnden regulatorischen Rahmenbedingungen. Noch wichtiger ist, dass das SI-Centre mit all unseren Anlageteams zusammenarbeitet, um sicherzustellen, dass das gesamte traditionelle Anlagewissen mit dem SI-Wissen kombiniert wird. Es ist nicht einfach, mit einem sich schnell entwickelnden regulatorischen und wettbewerbsorientierten Umfeld Schritt zu halten. Aber wir haben eine Geschäftsleitung, die sich verpflichtet hat, im Bereich der nachhaltigen Anlagen eine führende Rolle zu übernehmen. Zudem konzentrieren wir uns auf Transparenz und den Kontakt mit unseren Kundinnen und Kunden, um sicherzustellen, dass wir ihre Ansprüche erfüllen und uns nur zu dem verpflichten, was wir glauben liefern können.

Durch Ihren beruflichen Werdegang verfügen Sie über viel Kenntnis des Schweizer Finanzplatzes. Wie kann die Schweiz ihr Ziel erreichen, ein führendes Ökosystem für nachhaltige Finanzen aufzubauen?


Die Grösse und Stabilität des Schweizer Finanzplatzes ist nicht nur für Finanzinstitute sehr attraktiv, sondern auch für die besten lokalen und internationalen Talente. Die Schweizer Asset Manager gehören zu den Vorreitern des nachhaltigen Investierens. Das Engagement des Bundesrates für Sustainable Finance und die Einbeziehung der Nachhaltigkeit in die Finanzmarktpolitik ist daher eine natürliche Entwicklung und eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Stabilität der Weltwirtschaft langfristig erhalten bleiben können. Meiner Ansicht nach ist die aktive Zusammenarbeit innerhalb der Schweizer Finanzindustrie sowie mit internationalen Initiativen der Schlüssel, um skalierbare Lösungen für globale Probleme zu finden. Und als globaler Asset Manager schätzen wir die Bemühungen der Regulierungsbehörde und der Branchenverbände sehr, Rahmenbedingungen mit klaren Zielen einzuführen, die sich an der europäischen Regulierung orientieren, aber in der Umsetzung praktisch bleiben sollen.

Wie integrieren Sie persönlich Nachhaltigkeit in Ihren Lebensstil?


Ich bin der festen Überzeugung, dass eine wirklich nachhaltige Wirtschaft kreislauforientiert sein muss. Deshalb versuche ich, den ökologischen Fussabdruck meiner Familie zu minimieren, indem ich Abfälle reduziere und unsere Dinge so oft wie möglich wiederverwende, umfunktioniere oder upcyclen lasse. Ich baue gerne Obst und Gemüse an und stelle meine eigene Kleidung her, aber meine Fähigkeiten im Gärtnern und Nähen sind noch nicht so ausgereift, dass wir in nächster Zeit autark leben können!